Aufbrechen – Sprechen – Erleben // Eine Reportage anlässlich des Jubiläums „15 Jahre ahoj.info“

Aufbrechen – das ist ein Wort, das ich mit meinem Auslandsjahr in Tschechien in Verbindung bringe. Ich breche auf und beginne eine Reise – wie ich es vor zwei Jahren so oft getan habe, als ich mich auf den Weg gemacht habe zur „Runda“ in Regensburg, zum Seminar in Sušice, zum Wandern im Krkonoše oder zum Wochenendtrip nach Bratislava. Heute, Freitag, 22.06.2018, folge ich der Einladung zur Jubiläumsfeier „15 Jahre ahoj.info“ in Plzeň – der Stadt, in der ich ein Jahr lang meinen Europäischen Freiwilligendienst (EFD) beim Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch – Tandem / Projekt „ahoj.info“ absolvieren durfte. Ich habe nicht das Gefühl wegzufahren, sondern vielmehr das Gefühl des Zurückkommens, des Heimkehrens. Selbst jetzt, zwei Jahre später, erinnern noch etliche Dinge an meine Zeit in Tschechien. Ein wenig eingestaubt oder in Schubladen vergraben, aber sie sind noch da.

  • …auf meiner Playlist ist Musik der tschechischen Band Sto zvířat gelistet, die nun neben den Livekonzerten in Plzeň auch aus meinem WG-Zimmer in Leipzig zu hören ist…
  • …in meinem Geldbeutel sammeln sich Fahrkarten der České dráhy und Reste tschechischer Kronen von vergangenen Reisen ins Nachbarland…
  • …ein Foto an der Wand erzählt von der Begeisterung über mein erstes Eishockeyspiel bei HC Škoda Plzeň, ein anderes zeigt in die Kamera lachende Teilnehmer/-innen beim ahoj.info-Videoworkshop in der Jugendbildungsstätte Waldmünchen…
  • …die Festivalarmbänder vom Colours of Ostrava, meinem allerersten Musikfestival überhaupt, trage ich noch immer am Handgelenk, somit immer bei mir…
  • …an meinem Reiserucksack ist ein Button des Theaternetzwerkes čojč (sprich: tscheutsch) befestigt, der mich an die gemeinsame deutsch-tschechische Theaterwoche KALEIDOSKOP im Sommer 2016 zurückdenken lässt…

Ich packe mein Busticket zu den Sachen im Rucksack und weiß, für mich wird es mehr sein als die bloße Anreise nach Plzeň. Denn mit dieser Reise sind ganz viele persönliche Gedanken und Gefühle verbunden.

Leipzig ↔ Plzeň │Deutschland ↔ Tschechien

Bevor ich aufbreche, krame ich die alten Blogbeiträge wieder raus, die ich während meiner Freiwilligenzeit verfasst und auf www.ahoj.info veröffentlicht habe. Ich werde ein wenig von Nostalgie gepackt.

Wort für Wort aus meinem letzten Blog-Beitrag mit dem Titel Menschen zitiert:

Wenn ich Plzeň dann in ein paar Wochen verlasse, werde ich ein großartiges Jahr im Gepäck haben. Jetzt ist es an mir, DANKE zu sagen und das in allen möglichen und unmöglichen Sprachen dieser Erde. Ganz egal welches Wort dort stehen würde, bleibt die Aussage dahinter dieselbe. Eine schöne Vorstellung für diese Welt, für alle Menschen.Ironisch, dass ausgerechnet das kleine Tschechien – nur drei Autostunden von meinem Wohnort entfernt – mir die Augen für die Welt geöffnet hat.
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge,Pauline

Das bin ich, dankbar für die Erinnerungen an meine Zeit als ahoj.info-Freiwillige 2015/16 in Plzeň. Und wer könnte besser über das Jubiläum 15 Jahre ahoj.info schreiben als eine ehemalige Freiwillige aus Sicht derjenigen, die höchstpersönlich ihr Jahr bei ahoj.info erlebt haben oder gerade erleben.

Auch rückblickend kann ich meinem jüngeren Ich vollkommen zustimmen. Zugegeben kommt die Aussage „Mit einem lachenden und einem weinenden Auge“ recht pathetisch daher, aber ehrlich gesagt trifft es das ziemlich genau. Dieser eine intensive Lebensabschnitt mit all seinen Höhen und Tiefen lässt sich für mich nicht besser resümieren.  

Passend dazu versinnbildlicht das Wetter bei meiner Anreise nach Tschechien mit abwechselnd nasskaltem Regenschauer und strahlendendem Sonnenschein mein inneres Wechselbad der Gefühle.

Was erwartet mich?
Wer erwartet mich?

Unerwartet kreuzt sich mein Weg zum Veranstaltungsort mit zahlreichen bunten Seifenblasen.

Seifenblasenmomente.

15  Jahre, das ist eine ganz schön lange Zeit. Und hier zerplatzen im Sekundentakt die Seifenblasen vor meinen Augen. Und zerplatzen. Und zerplatzen. Schneller vergangen, als man sie überhaupt (be)greifen kann. Ich habe ein Flashback. Ich war in Nürnberg unterwegs zur Tandem-Juniorteam-Schulung und blieb in der Hektik kurz stehen, um noch schnell ein Foto zu machen. Da erreichten mich die Worte, die mir bis heute im Kopf geblieben sind:

„Lassen Sie mal die Kamera unten und schauen Sie hin!“

Innehalten bei all der Schnelllebigkeit und verrinnenden Zeit. Ich möchte nicht das Foto. Ich möchte den Moment – irgendwo zwischen allen Erinnerungen, die schon waren und aller Vorfreude, die noch kommen wird.

Ich mache es mir heute zur Aufgabe, den Abend zu genießen, Menschen zu begegnen, Momente einzufangen.  

Sprechen. Wir kommen hier an einem Ort zusammen, wo jeder einzelne seine ganz eigene Geschichte zu erzählen hat. Im Mittelpunkt stehen wir – im ahoj.info-Netz verknüpft und im untrennbaren Austausch miteinander.

Kaum über die Schwelle der alten Fabrikhalle im Industrial Stil mit ihrem alternativ-innovativ-kreativen Flair getreten, fühle ich mich mittendrin anstatt nur dabei. Die Begrüßung ist herzlich, die Stimmung gelöst, die Gespräche angeregt.
Das DEPO2015 Plzeň zeigt sich als Veranstaltungsort zum Wohlfühlen. Es ist ein lebendiger Raum, der Plzeň – Kulturhauptstadt Europas 2015 erhalten geblieben ist und fortdauernd von seiner Gestaltbarkeit lebt.

Für die Jubiläumsfeier „15 Jahre ahoj.info“ erscheint keine Räumlichkeit passender. DEPO2015 verbindet Kultur mit Wirtschaft und veranschaulicht fast schon symbolisch die Vernetzung im Allgemeinen, die gleichermaßen einen hohen Stellenwert bei ahoj.info einnimmt.  

Mit jedem Schritt, den ich durch den Raum mache, vergesse ich mehr und mehr das Gewicht auf meinen Schultern. Links von mir eine zeitgenössische Galerie, zu meiner rechten Seite eine langgestreckte Bar, zusammengezimmert aus Metall, Stahl und massivem Holz.

Ich kenne diesen Ort. Ich war schon hier, das letzte Mal vor zwei Jahren. Doch die ganzen Eindrücke lassen mich nicht nur das Gewicht meines Rucksacks, sondern ebenso die Zeit vergessen, die inzwischen vergangen ist. Auf einmal kommt es mir so vor, als würde mein Freiwilligendienst bei ahoj.info nicht schon Jahre zurückliegen, sondern als wäre er erst gestern gewesen.
In der Theorie hatte ich einfach nur den Raum durchqueren wollen, um mein mitgereistes Gepäck in einer hinteren Ecke verstauen zu können. Praktisch rücke ich gerade von einem Tisch zum anderen vor, gehe einen Schritt voran, bleibe stehen, bekanntes Gesicht hier, eine Begrüßung da, schließe Arbeitskollegen und Freundinnen in die Arme, beginne Gespräche, die ich nicht zu Ende bringen kann. Es gibt so viel zu erzählen und noch mehr, sich anzuhören.

Momentaufnahme.

Es fasziniert mich, wie das Projekt ahoj.info so viele unterschiedliche Menschen zur selben Zeit am selben Ort zusammengebracht hat. Das vereint, ganz egal aus welcher Motivation heraus ein Freiwilligendienst angetreten wurde (ob Auslandsjahr in einem Land fernab vom Mainstream oder um eine neue Fremdsprache zu lernen), welche Interessen im Laufe des Projektes weiterverfolgt wurden (ob Social Media oder Give Aways), welcher Bezug heutzutage noch zu Tandem besteht (ob privat das Bestehen alter Bekanntschaften oder dienstlich die Übernahme einer Honorartätigkeit).

Auf der einen Seite erzielt ahoj.info eine enorme Reichweite, auf der anderen Seite erweist es sich als unser aller Berührungspunkt, als gemeinsamer Nenner, da, wo wir uns treffen.

Wir – das bedeutet die Kolleg/-innen von Tandem Regensburg und Tandem Plzeň, ehemalige und derzeitige ahoj.info-Freiwillige, Juniorteamer/-innen, Sprachanimateur/-innen, Europäische Freiwilligendienstleistende, JuFo-Sprecher/-innen, Simultandolmetscher/-innen, Vertreter der Jugendbildungsstätte Waldmünchen, Deutschlehrer/-innen, Musiker/-innen, Mentor/-innen, Seminarteilnehmende und andere, mit denen ich mich leider nicht unterhalten konnte.

Nach dem für mich emotionalen Empfang schließt sich der offizielle Part der Veranstaltung an.  Als roter Faden dient das ahoj.info-Motto „aufbrechen • sprechen • erleben“, welches folglich durch das Programm leitet.

Als erster Redner tritt Petr Náhlík, der Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Stadt Plzeň, auf. Er eröffnet seine Rede mit dem Anliegen, dass er nur kurz das Wort ergreifen werde, um dem Abend nicht unnötig Zeit zu nehmen für das Miteinander-Sprechen. In seinem Grußwort wird deutlich, als wie bereichernd die gegenseitige Städtepartnerschaft zwischen Regensburg und Plzeň zu bewerten ist. Eine Städtepartnerschaft, die durch die Tandem-Verbindung bereichert wird.

Humorvoll und selbstironisch schließt sich eine kurze Inszenierung vom Theaternetzwerk „Čojč“ (sprich: tscheutsch) an. Anhand eigenwilliger Begegnungsmethoden und Bühnensprache ist es sowohl den Deutschsprachlern als auch den Tschechischsprachlern möglich, das zweisprachige Stück zu verstehen. Besonders originell die Szenen mit den sprachlichen Missverständnissen, von denen ich das eine oder andere aus meinem Auslandsjahr wiedererkenne, wie etwa, dass das tschechische Wort stůl im deutschen keinesfalls mit Stuhl, sondern mit Tisch übersetzt wird. Witz und Wortspiel entlocken der Zuschauermenge, inklusive meiner selbst, ein paar herzhafte Lacher.

Als nächstes steht Sprachanimation auf dem Programm, welche uns – angeleitet von Lenka Nejedlá – von den drei ahoj.info-Freiwilligen František, Fritz und Marie erzählt und auf eine kleine, feine Abenteuerreise mitnimmt. Wir klatschen, stampfen, drehen uns im Kreis, knicksen, begrüßen uns mit einem freudigen „Ahoooj!“, und das nicht nur einmal oder zweimal oder dreimal… Unzählbarmal, bis auch der letzte Rest Müdigkeit oder schlechte Laune vertrieben sind. In gleicher Art und Weise funktionieren auch die zahlreichen Projekte und Seminare, aber eben nur dann, wenn es auch Menschen gibt, die dahinterstehen, mitmachen und als Gemeinschaft auftreten.

Erleben. Das deutsch-tschechische Projekt ahoj.info in Zahlen:

-    15 Jahre ahoj.info
-    33 Freiwillige
-    davon 13 aus Deutschland und 20 aus Tschechien
-    davon 29 weibliche Freiwillige und 4 männliche Freiwillige
-    29 durchgeführte Seminare
-    14 Tagesveranstaltungen
-    circa 750 Teilnehmende

ahoj.info – das steht nicht allein für Seminarorganisation, es geht um Selbsterfahrung neben der Arbeit am deutsch-tschechischen Jugendportal www.ahoj.info, darum, die Kultur des Nachbarlandes kennen- und im Idealfall lieben zu lernen, auf Reisen zu sein, Kontakte zu knüpfen, Herausforderungen zu meistern, in einem binationalen Team zusammenzuarbeiten und und und… Die Liste ist lang und was sie so auszeichnet ist die Vielfältigkeit, die sie innehat.

Erleben ist etwas Individuelles und jeder einzelne von uns ahoj.info-Freiwilligen kann durch den EFD prägende Erfahrungen für sich persönlich machen, während wir alle das Gemeinsame zur Grundlage haben.

Hana Bejlková und Annika Jakobs nehmen uns als Zeitzeuginnen aus den ahoj.info-Jahrgängen 2004 und 2015 mit hinein in die Momente, die für sie unvergesslich blieben. Des Weiteren gaben die Leiter von Tandem Regensburg und Tandem Plzeň, Thomas Rudner und Jan Lontschar, einige Anekdoten zum Besten, die sich einen Platz im Best of 15 Jahre ahoj.info verdient hätten. Von Nikolaus und Krampus, die einem Freiwilligen zuhause einen Krankenbesuch abstatteten, über die längste facebook-Freundschaft bis hin zu einer deutsch-tschechischen Theaterfahrt, die mit flatternden Unterhosen im Autofahrtwind endete, war scheinbar schon alles dabei.

Jede Geschichte ist anders, jedes Erlebnis an sich besonders und wird so erzählt, als wäre man dabei gewesen.
Die eingefangene Stimme eines treuen Seminarteilnehmers von ahoj.info:

„Das Projekt hat sich bis heute so weit entwickelt, dass es gar nicht mehr nötig ist, Themen stereotypisch deutsch-tschechisch zu bearbeiten.“

Seminarinhalte haben sich von Was ist typisch tschechisch und was ist typisch deutsch? zu beispielsweise Upcycling, Achtsamkeit, Menschen auf der Flucht gewandelt und junge Menschen in die Begegnung gebracht.
Die Dynamik der sich jährlich wechselnden ahoj.info-Teams macht das Projekt so spannend und wandelbar. Es ist an den Freiwilligen, ihre einzigartigen Ideen mit einzubringen, sich auszuprobieren, die derzeitigen Interessen junger Menschen aufzugreifen sowie neue Themenfelder aufzumachen.

Der exklusiv für die Jubiläumsfeier gestaltete Button mit der Aufschrift Made in 2003 - 15 years of being awesome bringt die Anerkennung für das, was über die Jahre hinweg geleistet wurde, zum Ausdruck. Ich bin ein Teil von 15 Jahre ahoj.info. Und wenn ich mich umschaue, dann haben alle Gäste gleichwohl ihren Beitrag geleistet, wodurch ahoj.info hier und jetzt das ist, worauf wir anstoßen und was wir feiern wollen.

Alles schön und gut. Darüber hinaus gilt es, sich Zeit zu nehmen und Raum zu schaffen für konstruktive Kritik, neue Impulse, Problemstellungen, Träume, Utopien, Veränderungen.  

Die Jubiläumsfeier ist ein Moment innerhalb eines Prozesses. Mit dem Blick zurück lernen wir für die gemeinsame Zukunft. Was nachklingt, sind die Stimmen, die nach Entwicklung laut werden. Ein Projekt wie ahoj.info ist alles andere als statisch. Angesichts der motivierten sowie partizipierenden Freiwilligen wird es in Bewegung kommen, in Bewegung bleiben, sich perspektivisch wandeln.

Ich bin gespannt auf die nächsten 15 Jahre ahoj.info. Was werden wir uns zur 30-Jahr-Jubiläumsfeier zu erzählen haben?

Das Löschen der letzten Lichter im DEPO2015 bedeutet für uns nicht gleich das Ende der Feier. Zusätzlich zu meinem Reiserucksack schultere ich ganz viel Inspiration und Lust auf mehr. Das gute Gefühl trage ich zusammen mit meinem Grüppchen bis in die Innenstadt von Plzeň, begleitet mich bis hinein in die Pivoňka. Der Eingang zum vertrauten Keller der Kneipe befindet sich passenderweise direkt neben dem Büro von Tandem Plzeň. Pivoňka bedeutet für mich Neubeginn, Abschied, Wiedersehen in Einem.

Unter dem schummrigen Licht, zu der schlechten Musik, an den bekritzelten Holztischen habe ich vor drei Jahren feierlich meinen ersten Tag als ahoj.info-Freiwillige begangen, währenddessen die vorherigen Freiwilligen ihren letzten Abend als ebendiese zusammen mit mir dort gebührend verbrachten. Noch immer gefällt mir der Gedanke des Weitergebens und Fortlebens, Jahr für Jahr, von einer ahoj.info-Generation zur nächsten.

Die Momente und damit verbundenen Gefühle kommen wieder hoch und ich höre die ehemaligen Freiwilligen, wie wir so vor drei Jahren beisammensaßen, sagen, dass ich bei ahoj.info das beste Jahr, das Jahr meines Lebens noch vor mir habe. Ich war gespannt, aber hatte meine Zweifel, ob das kommende Jahr nicht vielleicht doch hinter den Versprechungen und Erwartungen zurückbleiben wird. Wird es nicht. Denn es ist Dein Jahr.

Und so führt es sich fort. Ein Jahr später. Pivoňka. Wir stießen auf ein vergangenes und zugleich auf ein bevorstehendes Jahr bei ahoj.info an.

Ich saß meiner Nachfolgerin gegenüber und hörte mich zu ihr sagen:

„Es liegt das beste Jahr deines Lebens vor dir!“

Von Pauline Tschakert