Eine Grenzgeschichte, die von großer Freiheit erzählt

Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des ersten deutsch-tschechischen Jugendtreffens 1996 in Polička, auf dem die Gründung der Koordinierungszentren Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch – Tandem beschlossen wurde, fand das 9. deutsch-tschechische Jugendtreffen vom 23. bis 25. September 2016 erneut in Polička statt. Eine der Teilnehmer/-innen war Pauline Tschakert, die bis Ende August 2016 EVS-Freiwillige bei Tandem Pilsen war. Im Folgenden lesen Sie ihre ganz persönlichen Eindrücke hinsichtlich des 9. deutsch-tschechischen Jugendtreffens und den deutsch-tschechischen Beziehungen im Allgemeinen…

„Ich habe noch immer Bauchschmerzen, wenn ich über die Grenze fahre“, sagt Kateřina, Tschechin im besten Rentenalter, mit Lachfältchen um die Augen und einem bedauernden Blick. Wie ehrlich sie mich an ihren Erlebnissen zur Zeit des Eisernen Vorhangs teilhaben lässt. Ich stehe ihr gegenüber und werde mir wieder dessen bewusst, dass wir aus zwei unterschiedlichen Zeiten stammen. Für mich zunächst schwer greifbar. Vielmehr ganz weit weg vom verdammten Glück meiner Generation, deren Gedanken beim Reisen maximal um das Thema „Hoffentlich reicht mein Kleingeld noch für einen Kaffee am Bahnhof!“ kreisen. Oder? Unsere Großeltern hatten früher auch mehr im Blick als nur ihre Schrebergärten. So wie wir jungen Menschen heute interkulturelle Konflikte, wie zum Beispiel den „Brexit“, deutlich zu spüren bekommen – neben all den alltäglichen Fragen, die in unseren Köpfen herumschwirren.

Grenzgeschichten.

Ich bin Teil dieser Geschichten geworden. Vor allem durch mein Auslandsjahr als Europäische Freiwilligendienstleistende bei den Koordinierungszentren Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch – Tandem. Ein Jahr lang zwischen Deutschland und Tschechien, zwischen Regensburg und Pilsen. Im Mittelpunkt: Austausch, Respekt, Toleranz, Abbau von Vorurteilen.

Wie etwa am heutigen Tag, dem 23. September 2016, gegen 14.30 Uhr, in einem klapprigen Bus, der mich und rund 30 andere Jugendliche aus den verschiedensten Ecken Deutschlands und Tschechiens in das böhmische 9.000-Einwohner-Städtchen Polička fährt. Wir als erwartungsvolle Teilnehmer/-innen des bevorstehenden deutsch-tschechischen Jugendtreffens sitzen nun alle im selben Boot – oder Bus, wie auch immer. Das Potential ist jedenfalls da, wir haben uns alle freiwillig auf den Weg gemacht, wir wollen hier sein. Und so kurvt besagter klappriger Bus von einer Landstraße auf die nächste und durchquert ein verlassenes Dorf, nur um noch verlassenere Dörfer durchqueren zu können. Klingt zwar nicht wie der Anfang einer Helden-Weltverbesserer-Geschichte, aber das Potential dafür haben wir im Gepäck. Jeder einzelne von uns ist mit seiner ganz eigenen Motivation und seinen individuellen Ideen angereist.
Wir tun es eben nicht für die Geschichte, sondern für unsere ganz persönlichen Geschichten, die, alle zusammengefasst, die Geschichte Europas sind.

Das Mädchen am Fenster mit dem ansteckenden Lachen meint, sie habe ihren Freiwilligendienst ebenfalls in Tschechien geleistet und freue sich darauf, ihre Sprachkenntnisse mal wieder etwas auffrischen zu können. Der Junge auf der Rückbank mit dem intensiven Blick hinter den Brillengläsern meint, er sei in einer sozialistischen Jugendgruppe aktiv und hoffe, dass beim deutsch-tschechischen Jugendtreffen politische Themen mit einbezogen werden. Meine Sitznachbarin mit den neugierigen Fragen auf den Lippen meint, sie sei zum ersten Mal bei so einem Treffen und würde gerne Kontakt zu Vertreter/-innen der Jugendarbeit knüpfen.

Nun zu mir. Ich wollte eigentlich schlafen, weil ich schon seit früh morgens auf den Beinen bin, aber ich habe Sehnsucht nach Tschechien und will ehemalige Arbeitskolleg/-innen und alte Freunde wiedertreffen. Wir reden die ganze Fahrt über. Schlafen kann man später schließlich immer noch.
In Polička angekommen, treffen wir uns im Tylův dům, dem kulturellen Zentrum der Stadt mit großer Theaterbühne und herrlichen Polsterklappstühlen. Dem Ort, an dem das 9. deutsch-tschechische Jugendtreffen stattfinden wird. Wie es bei bedeutenden Feierlichkeiten so ist, werden zunächst von namenhaften Anzugträgern beziehungsweise Kleidträgerinnen Reden geschwungen.

Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des ersten deutsch-tschechischen Jugendtreffen 1996 in Polička, auf dem die Gründung der Koordinierungszentren Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch – Tandem beschlossen wurde, findet das 9. deutsch-tschechische Jugendtreffen erneut hier in Polička statt. Beim Blick zurück wird bewusst, dass sich seither einiges getan hat. Was damals noch eine Absichtserklärung war, ist längst Wirklichkeit geworden. Der Grund, warum wir jetzt hier stehen und vorantreiben, was sich in den Köpfen anderer junger Menschen vor 20 Jahren befand.

Ich schaue von der hell erleuchteten Bühne auf die Umrisse von Jugendlichen in den dunklen Sitzreihen vor mir. In meinem Kopf – stellvertretend für die Köpfe der anderen – manifestiert sich ein Gedanke: Wer wird in den kommenden 20 Jahren unsere guten Absichten vorantreiben?

Es ist ein Zurückerinnern an die Vergangenheit mit einem Vorausblick in die Zukunft. Wir sind ein Abschnitt des Prozesses. Aber ein wichtiger. In den letzten Jahren gab es viele Veränderungen, viel Fortschritt, viel Positives. Aber unter uns gesprochen: „Dass die EU existiert, bedeutet nicht automatisch, dass Austauschprojekte unnötig werden.“ Gerade dann nicht.

Workshop-Themen wie beispielweise „Gesellschaftliches Engagement und Fremdenfeindlichkeit“ verweisen auf den starken Diskussionsbedarf und die Entwicklungen im heutigen Europa. Doch auch mit Kreativität in Workshops wie Čojč-Theater (sprich: tscheutsch-Theater) lässt sich schnell an gemeinsamer Stelle ansetzen und ein offener Raum für Ideen – egal ob deutsch oder tschechisch – schaffen. Es sind Ideen von jungen Menschen, von jungen Europäern.

Das Licht auf der Bühne wird gedimmt. Die Lampen im Saal über unseren mit Inspiration und Motivation gefüllten Köpfen gehen an. Fazit des Redenmarathons: „Was trennt uns? Nichts!“

Bühne frei! 
Auf Worte müssen Taten folgen!
Wider Generation X!
Aktiv statt repräsentativ!
In der Sache vereint!

Wir haben die Möglichkeit, etwas zu schaffen, so dass jeder ganz persönlich zu einer gemeinsamen europäischen Zukunft beitragen kann.

Herzensangelegenheit.

Das Kleine im Großen suchen, denn deutsch-tschechische Jugendbegegnung an sich ist ein weitreichendes Wort. Dahinter stehen wir und Momente wie Puzzleteile. Eines dieser Puzzleteile fügen wir jetzt gerade in diesem Moment mit hinzu. Ein Treffen an großen, kleinen, dicken, dünnen, männlichen, weiblichen, jüngeren, älteren, Deutsch und Tschechisch plappernden Menschen. Freitagabend im beschaulichen Divadelní klub Polička, aus welchem rockige Gitarrenmusik strömt und wo uns orangenes Licht wärmt. Wenig später stehen wir schon in einem Felsenkeller-ähnlichen Clubraum, haben den Altersdurchschnitt in dem kleinen Pub auf Mitte 20 gesenkt und wippen zu den Psychopop-Klängen einer Hippie-Band. (recherchiert: Simeon Soul Charger aus Ohio, USA, pfeifen auf New York City, um ein Deutschland-Projekt zu starten und spielen aus unerfindlichen Gründen heute hier – so geht Völkerverständigung der Moderne!) Es wird getrunken, geredet, gelacht, getanzt. Und wir vergessen großpolitisches Tamtam und sind einfach wir selbst, ohne Trennung, ohne Grenzen.

Vor noch genau 20 Jahren standen sich der deutsche Präsident Roman Herzog und der tschechische Präsident Václav Havel in Polička gegenüber und besiegelten das Ganze symbolisch, in dem sie gemeinsam mit dem guten ortseigenen Bier auf das Zusammentreffen anstießen. Mittlerweile stehen wir hier, weil es normal geworden ist und man wird uns sagen hören: „Na zdraví! Prost!“ Auf uns und einen guten Start in das Programm der nächsten Tage.

Am Samstag darauf habe ich einerseits Anlass zum Nachdenken, andererseits zum Lachen, einerseits zum kritisch sein, andererseits zum locker sein. In dem Workshop zum Thema „Deutsch-tschechische Beziehungen 1996/2016“ kommt es zu anregenden Diskussionen und Perspektivwechseln, zudem erlebe ich Sprachanimation, bei welcher wir uns ungehindert in Gruppenaktivitäten auslassen können. Es gibt überall Gelegenheit zum Informieren, Reflektieren, Spaß haben und Einbringen eigener Ideen. Zu guter Letzt nehme ich außerdem am „Journalistischen Workshop“ der tschechischen Journalistin Bára Procházková, die beim 1. deutsch-tschechischen Jugendtreffen als Teilnehmerin mit dabei war, teil. Bei ihr hat man das Gefühl, nicht nur gefördert, sondern gleichermaßen gefordert zu werden.

Wer wird wohl in zwei, drei Jahrzehnten da vorne stehen oder Reportagen über das 17. deutsch-tschechische Jugendtreffen schreiben? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich froh bin, Teil dieser Zeit zu sein. Weitergeben, Weitergehen, von Generation zu Generation, Schritt für Schritt.

Europa ist unsere Heimat.

Und vielleicht, aber nur vielleicht wissen in den nächsten 20 Jahren mehr Menschen auch mehr über ihren Nachbarn, anstatt zu wetten, wer das WM-Fußball-Qualifikationsspiel zwischen Deutschland und Tschechien gewinnt.

Von Pauline Tschakert